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Stellungnahme des Hamburger Volksentscheids „Schuldenbremse streichen!“ zum Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht und dem Vorwurf der Irreführung

Pressemitteilung
Hamburg, 18.11.2020 

„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“
– Bertolt Brecht, nach dem Gedicht „Die Lösung“, 1953.

Am 4. November 2020 hat das Landesverfassungsgericht Hamburg eine mündliche Anhörung durchgeführt, zur vom Hamburgischen Senat beantragten Überprüfung des Volksentscheids „Schuldenbremse streichen“ auf seine verfassungsmäßige Zulässigkeit. Dabei ließ das Gericht durchblicken, dass es zumindest eines der vom Senat vorgebrachten Bedenken teilen könnte – und zwar in Bezug auf eine mögliche Irreführung der Abstimmenden durch die Volksinitiative.

Dazu möchten wir als Volksinitiative Stellung nehmen, denn hiermit verbunden werden:

  • unzutreffende Unterstellungen in Bezug auf die politische Absicht und die Redlichkeit der Volksinitiative getätigt, 
  • die realen Handlungseinschränkungen durch die Schuldenbremse selbst verschleiert, 
  • die politischen Handlungsspielräume des Senats bzw. der Bürgerschaft unterschlagen, 
  • die Fähigkeiten der Hamburger Bürger*innen zur mündigen Willensbildung geleugnet, 
  • und zudem weitreichende Präjudizien für die prinzipielle Undurchführbarkeit von direktdemokratischen Volksgesetzgebungsverfahren zu schaffen angedroht. 

Dies macht eine Klarstellung unsererseits und den vehementen Widerspruch der demokratischen Zivilgesellschaft erforderlich. Am 4. Dezember 2020 will das Gericht sein Urteil verkünden.

Wir stehen für (Hintergrund-)Gespräche mit Pressevertreter*innen, auch zur Vorbereitung der Berichterstattung im Vorfeld der Urteilsverkündung, gerne zur Verfügung. 


Zur Sachlage:

Zu den vom Gericht zu prüfenden Fragen gehört u. a., ob ein Volksbegehren die allgemein geltenden Abstimmungsgrundsätze verletzt oder nicht. Dazu zählt der Schutz der Entscheidungsfreiheit der Abstimmenden. Hiermit ist gemeint, ob die Abstimmenden hinreichend informiert ihre Entscheidung treffen können, oder durch Fehlinformation oder Täuschung darin eingeschränkt werden. Mit Bezug darauf behauptet der Senat, die Volksinitiative täusche die Abstimmenden in der angefügten Begründung des zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurfs, und zwar über den Umstand, dass mit dem erfolgreichen Volksentscheid statt der von ihr behaupteten Erweiterung der Kreditaufnahmemöglichkeiten des Staates eine reale Einschränkung derselben stattfände. Dies begründet er damit, dass durch die von der Volksinitiative angestrebte Verfassungsänderung die grundgesetzlich eingeräumten Möglichkeiten zur Abweichung vom Neuverschuldungsverbot der Schuldenbremse in Fällen von höherer Gewalt oder Naturkatastrophen wegfielen, worüber die Volksinitiative die Abstimmenden nicht oder nicht hinreichend informiere. Öffentlichkeitswirksam wird dafür das Beispiel der aktuellen kreditfinanzierten „Corona-Hilfen“ angeführt, die demnach bei erfolgreicher Volksinitiative nicht mehr möglich seien.

Zutreffend ist:

  1. Auch wenn die aktuellen „Corona-Hilfen“ in diesem Zusammenhang anzuführen populär erscheinen mag, sind sie – ungeachtet ihrer angesichts von Umfang und Empfängergruppen zumindest unterschiedlich bewertbaren sozialen Hilfreichenheit – gar nicht von der möglicherweise erfolgreichen Volksinitiative betroffen. Die von der Volksinitiative angestrebte Verfassungsänderung würde nach erfolgreichem Volksentscheid frühestens Ende 2021 in Kraft treten können. Die aktuelle Anwendung des Ausnahmefalls zur Aussetzung der Kreditaufnahmebeschränkungen durch die Schuldenbremse ist in Bezug auf die Pandemielage jedoch bereits jetzt von der Bürgerschaft beschlossen und kann auch im kommenden Jahr problemlos angewandt bzw. verlängert werden.
  2. Die Volksinitiative hat in ihrem Begründungstext explizit erklärt, dass die von ihr geforderten notwendig massiv auszuweitenden Investitionen nicht sofort durch den Erfolg ihrer Verfassungsänderung möglich wären, da fortgesetzt die grundgesetzliche Schuldenbremsen-Regelung die Länder zwingt, ihre Kreditaufnahme zu begrenzen. Sie hat aus ihrer Absicht, ebenfalls zur Änderung der Grundgesetzregelung beitragen zu wollen, ebenso wenig einen Hehl gemacht wie aus dem Umstand, dass einer Verfassungsänderung in Hamburg dafür wiederum wesentlich symbolische Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang hat sie ebenfalls explizit darüber aufgeklärt, dass für den Fall, die Streichung der Schuldenbremsen-Regelung aus der Landesverfassung träfe auf ein bis dahin ungeändertes Grundgesetz, dann die Ausnahmeregelungen entweder durch das Grundgesetz direkt garantiert wären oder aber im nachrangigen Hamburger Recht neu zu kodifizieren wären:„Jede damals mit in die Verfassung übernommene Ausnahmeregelung oder Ähnliches wird durch die Streichung aus der Hamburger Verfassung nicht berührt, da sie nach wie vor, solange der Art. 109 GG weiter bestehen sollte, grundgesetzlich den Ländern ermöglicht bleibt und bei Bedarf auch in nachrangigem Landesrecht geregelt werden kann. […]“„Mit dem vorgeschlagenen Gesetz zur Streichung der Schuldenbremse aus der Hamburgischen Landesverfassung:

    […] Werden alle Haushaltsvorschriften, Berechnungsspielräume und Ausnahmeregelungen zur Schuldenbremse aus Art. 72 der Landesverfassung für die Dauer des Fortbestandes von Art. 109 GG entweder durch diesen unmittelbar garantiert oder durch die Möglichkeit zur Regelung in nachrangigem Landesrecht unberührt gelassen.“ (Auszüge aus der Begründung der Volksinitiative)

    Hiermit ist sowohl erkennbar, dass die Volksinitiative weder die verschleierte Absicht verfolgt, die Notfallausnahmeregelungen zu beseitigen und den Handlungsspielraum für kreditfinanzierte Investitionen einzuschränken (was geradezu konträr zu allen auch in der Begründung dargelegten politischen Zwecksetzungen der Initiative liefe), noch, dass sie die Abstimmenden im Unklaren ließe über die möglichen Folgen einer erfolgreichen Verfassungsänderung.

    Die explizite Erwähnung der Möglichkeit, die Ausnahmeregelungen auch im Landesrecht nachgeordnet durch die Bürgerschaft zu regeln, ist gerade dem Umstand geschuldet, dass die gesetzlichen Bestimmungen und gegenseitigen Wirkungseffekte der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Schuldenbremse zwischen Bund und Ländern für die Allgemeinbevölkerung derartig undurchsichtig und unnachvollziehbar sind, dass hierüber aufzuklären, was eigentlich in der Verantwortung des Gesetzgebers gelegen hätte, hier nun von der Volksinitiative zumindest versucht wurde.

    Bereits über die Frage, inwiefern die grundgesetzlich für den Bund getroffenen Regeln zu Ausnahmefällen bei fehlender landesrechtlicher Kodifizierung äquivalent Anwendung fänden, lässt sich selbst in öffentlich einsehbaren Parlamentsdrucksachen und einschlägigen juristischen Gutachten keinerlei Aufschluss finden. Dies kann nun schwerlich der Volksinitiative zur Last gelegt werden und hat diese zumindest in der offen gehaltenen Formulierung („bei Bedarf“) zu berücksichtigen versucht.

    Die Ausnahmeregelungen selbst per Volksinitiative in das nachrangige Landesrecht zu überführen, ist durch die Hamburgische Volksgesetzgebung ausgeschlossen, da Gegenstand einer Volksinitiative nur maximal 1 Gesetz (hier die Verfassung) und nicht 2 Gesetze gleichzeitig sein dürfen. Dass die Volksinitiative hierüber nicht auch noch aufklärt, kann als Versäumnis betrachtet werden, obwohl auch diese Verantwortung beim Gesetzgeber läge. Ihr daraus abgeleitet eine unvollständige Informierung des abstimmenden Bürgers zum Vorwurf zu machen, fällt auf den bürgerschaftlichen Gesetzgeber selbst zurück, es sei denn, man ist der Auffassung, dieser habe im Unterschied zu Volksgesetzgebungs-Initiatoren gar keine oder gänzlich andere Informationspflichten zu beachten.

  3. Würde das Gericht den Vorbringungen des Senats folgen und die Durchführung des Volksbegehrens „Schuldenbremse streichen“ auf dieser Grundlage unterbinden, so wäre hiermit das Instrument der Volksgesetzgebung prinzipiell ad absurdum geführt.Die Volksgesetzgebung soll Bürgern ermöglichen, mit eigenständigen Initiativen an der Gesetzgebung teilzuhaben und die Gesellschaft auf diesem Wege mitzugestalten. Dies setzt eine grundlegende Informiertheit über die sie betreffenden Belange voraus, woraus sich der Grundsatz des Schutzes der Entscheidungsfreiheit der Abstimmenden – bei Wahlen, bei parlamentarischen Gesetzgebungen usw. – überhaupt ableitet. Volksinitiativen können nur auf der Grundlage der so öffentlich zugänglichen Informationen überhaupt entstehen und den Mitbürgern im Wege der Unterschriftensammlung bzw. der Abstimmungsentwürfe diese Informationen und Alternativvorschläge zugänglich und nachvollziehbar im Sinne der Willensbildung machen.Wenn hierbei die Aufklärungspflicht jegliches Für und Wider gegen einen so vorgeschlagenen Gesetzesentwurf umfasste, insbesondere auch jene Kenntnisse, die selbst den Initiatoren vorenthalten bleiben oder nur über juristische Fachgutachten, wie sie die parlamentarischen Gesetzgeber in Auftrag geben können, in Erfahrung zu bringen sind, dann ist nicht mehr von Volksgesetzgebung zu sprechen, sondern höchstens von paraparlamentarischer Gesetzgebung oder juristischer Expertengesetzgebung.

    Wenn der Umstand, dass nicht alle möglicherweise auftretenden nachteiligen Effekte in einem Volksgesetzgebungsentwurf bzw. seiner Begründung explizit erwähnt und erwogen wurden, rechtfertigte, eine solche Initiative zu unterbinden, dann wäre ein Mittel geschaffen, wahllos jedes politisch unliebsame Begehren auf diese Weise gerichtlich stilllegen zu lassen, ohne dass die Bürger überhaupt in die Lage kämen, über das Für und Wider einer solchen Vorlage durch Abstimmung entscheiden zu können.

    Gerade hierdurch würde also die Entscheidungsfreiheit der Abstimmenden „unzulässig beeinträchtigt“, da nicht mehr das politische Argument ausschlaggebend wäre für die Entscheidungsfindung, sondern die bloße Willfährigkeit des Gerichts.

Fazit:

Es ist offenkundig, dass der Senat gewillt ist, die Möglichkeit von Volksgesetzgebungsinitiativen empfindlich und substanziell einzuschränken. Dies mag gerade in Zeiten, in denen es gesellschaftlich eher einer Stärkung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten und institutioneller Kultur bedarf, befremden, ist aber dennoch eine legitime politische Absicht. Diese jedoch nicht offen im parlamentarischen Diskurs oder als Wahlprogrammatik zu vertreten, sondern über gerichtliche Entscheidungen ohne nennenswerte öffentliche Debatte durchsetzen zu wollen, spricht für ein höchst fragwürdiges Verständnis von demokratischen und rechtsstaatlichen Prozessen, von der vielzitierten Bürgernähe und der Transparenzverpflichtung höherer Repräsentativämter – gerade in einer Stadt wie Hamburg, die man in Gänze im Blick zu haben behauptet.

Es ist geradezu frappierend, dass der Senat mit diesem Vorstoß eindeutig darauf reagieren will, dass in jüngster Vergangenheit zahlreiche Volksinitiativen erfolgreich waren, deren Forderungen – nach Behebung des Pflegenotstands in Krankenhäusern, nach Rückkauf der Energienetzte, nach Ausbau der Radwege und einer nachhaltigen Verkehrsinfrastruktur, nach bezahlbarem Wohnraum auf zu schützendem öffentlichen Grund und Boden, nach verbindlichen Volksentscheiden und nun nach Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge, Infrastruktur und sozialstaatliche Errungenschaften – einhellig gesamtverantwortliche Alternativen zur politischen Agenda der regierenden Parteien in den öffentlichen Diskurs einzubringen versucht haben, die dort bisher keine hinreichende Repräsentanz erfahren haben. 

Sie alle sind Ausdruck dessen, dass engagierte Hamburger*innen gewillt sind, sich mutig und streitbar für gesellschaftliche Alternativen zum für alternativlos erklärten Programm politischer Mängelverwaltung einzusetzen. Ein Großteil dieser Forderungen ist auf Maßnahmen gerichtet, die zur Lösung der aktuellen gesellschaftlichen Krise erheblich beitragen könnten und zeigt damit auf, dass die Nicht-Lösung vielzähliger Probleme nicht obskuren Sachzwängen geschuldet ist, sondern wesentlich einem Mangel an politischem Willen. Somit lässt sich eindeutig feststellen, dass hinter dem Versuch, solche Volksinitiativen gerichtlich in die Schranken zu weisen, kein hehrer rechtspflegerischer Anspruch steht, sondern der Wille, die bisher verfolgte Agenda der Alternativlosigkeit durch einen gerichtlichen Entscheid mit einem weiteren – selbst geschaffenen – Sachzwang zu zementieren.

Es ist beredt, dass ein solcher negativer Präzedenzfall nun ausgerechnet an der Volksinitiative zur Streichung der Schuldenbremse geschaffen werden soll. Die Schuldenbremse stellt in vielerlei Hinsicht den Inbegriff der in Frage gestellten Alternativlosigkeitsdoktrin dar. Gerade die Hauptlegitimation ihrer Einführung, es sei nicht genug Geld für sozialstaatliche Investitionen vorhanden, wurde bereits seit der Finanzkrise bei der Rettung von Banken und heute erneut mit der umstandslosen Verabschiedung von Milliarden-Rettungspaketen für „notleidende“ Konzerne und deren Aktionäre täglich widerlegt. 

Es lässt sich schlicht nicht rechtfertigen, warum nicht gleichfalls Milliardenpakete für die Ausfinanzierung öffentlicher Krankenhäuser (und deren Rekommunalisierung), von Hochschulen, Schulen, Kitas, Museen, Theatern, Schwimmbädern, für Investitionen in Wohnungsbau, nachhaltige Mobilität und Energiegewinnung, für den Ausbau von Geflüchteten-Unterkünften, soziale Mindestsicherungen für Erwerbslose, Kunst- und Kulturschaffende, Studierende, Rentner*innen etc., für die Einstellung und angemessene Entlohnung hinreichender Beschäftigter im Pflegebereich, der Gebäudereinigung und den öffentlichen Gesundheitsämtern, für die Finanzierung von Massenschnelltests zum Schutz von Risikogruppen in öffentlichen Einrichtungen, für den Einbau von Luftfilteranlagen auf dem neuesten Stand der Technik in öffentlichen Gebäuden usw. usf. vorhanden sein sollen. 

Diese Milliarden sind vorhanden – sie werden schließlich von den Beschäftigten in den vorgenannten Bereichen tagtäglich mit erarbeitet – sollen aber weiterhin nicht denjenigen zu Gute kommen, die damit zum Gelingen des gesellschaftlichen Lebens beitragen, sondern über Tilgungszahlungen fortgesetzt in den Steueroasen der privaten Gläubiger verenden. 

Man kann diese den meisten Artikeln des Grundgesetzes und der Hamburger Verfassung widersprechende Politik, die zudem in höchst anti-föderalistischer Weise die Haushaltshoheiten der Landes- und Kommunalparlamente aufs Empfindlichste beschneidet, für eine demokratische Notwendigkeit halten und sie als verantwortungsvoll gegenüber nachfolgenden Generationen verkaufen. Man sollte aber zumindest den Mut haben, die Hamburger Bürger*innen über die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit dieser politischen Maßgabe öffentlich befinden zu lassen. Wir wünschen dem Gericht, dass es diesen Mut zeigt und damit auch dem Senat ermöglicht, sein Vertrauen in die Bürger dieser Stadt wiederherzustellen.

Alle Hamburger*innen rufen wir dazu auf, sich das erkämpfte Mittel, an der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung über Volksgesetzgebungsinitiativen mitwirken zu können, nicht nehmen zu lassen. Eine Demokratie braucht engagierte Demokrat*innen.

„Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch K, 1793-1796.

Hier findet ihr den Stellungnahme auch als pdf.