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Filmseminar: Flüchtlingsgespräche
September 4 @ 20:00 - 23:30
(Fernsehspiel | Regie: Harry Buckwitz | BRD 1964 | 75 Min. | deu)
Für die Einführung in den Film und die Diskussion freuen wir uns, dass Frank-Burkhard Habel, unter anderem als Biograph von Curt Bois und Filmhistoriker, kommt.
Am 1. September ist Antikriegstag bzw. Weltfriedenstag. Das Datum gemahnt an den Einfall deutscher Wehrmachtsverbände in Polen, mit dem vor 85 Jahren der Zweite Weltkrieg begonnenwurde. Der Gedenktag wurde nach 1945 von der internationalen Friedensbewegung hervorgebracht, um die notwendigen humanenSchlussfolgerungen aus diesem unsagbarenMenschheitsverbrechen allumfassend gesellschaftlich zu verwirklichen. Insbesondere von deutschem Boden sollte nach zwei begonnenen Weltkriegen nie wieder etwas anderes als Frieden ausgehen. Die zivile Kooperation zur vollständigen Verwirklichung der sozialen, politischen und kulturellen Grund- und Menschrechte sollte das Zusammenleben der Völker im globalen Maßstab bestimmen. Konsequente Abrüstung und die strikte demokratische Regulierung privatwirtschaftlichenProfitstrebens sollte soziale Ungleichheit überwinden und das Interesse am Krieg als lukrativem Geschäft beseitigen, um ihn prinzipiell aus dem Leben der Menschheit zu verbannen.
Heute, da im Kursker Bogen wieder deutsche Panzer rollen, um die „Freiheit“ der Börsenwerte von Siemens, Rheinmetall und Co. zu verteidigen, und „Wehrhaftigkeit“ zur allgemeinen Tugend erklärt werden soll, sind jene historischen Erkenntnisse für eine menschenwürdige Zivilisationsentwicklung neu im öffentlichen Bewusstsein und Handeln zu verankern.
Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet die 1964 in der Zeitintensivierter Wiederaufrüstung der Bundesrepublik von Harry Buckwitz erarbeitete, kongeniale Verfilmung von Bertolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“.
In dem 1940/41 im finnischen Exil begonnenen Prosa-Stück fügt Brecht gedankliche Fragmente zusammen, die er auf seiner Flucht vor den Nazi-Schergen und ihrem sich ausbreitenden Krieg notiert hatte. Von der Grundfrage ausgehend, wie es zu Faschismus und Krieg hat kommen können und wie sie zu überwinden sind, entfaltet er in bestechender sprachlicher Klarheit tiefgreifende Reflektionen über die Bedeutung der Tugenden, der Religion undder Philosophie, über das Zusammenspiel von Ökonomie, Politik, Geschichte und Kultur, über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, von Manipulation und Aufklärung, von geistiger Erkenntnis- und materieller Veränderungstätigkeit und über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte – jeweils im Spannungsverhältnis von fortgesetzter Unterdrückung und möglicher Befreiung.
All diese Gedanken lässt er auf äußerst lebendig-humorvolle Weise zwei deutsche Exilanten im Bahnhofscafé von Helsinki miteinander austauschen – den studierten Physiker Ziffel und den ehemaligen Metallarbeiter Kalle.
Beides wird in der Inszenierung von Buckwitz kontrastreich herausgearbeitet: sowohl die trostlose Szenerie der erzwungenen Fremde und der damit verbundenen scheinbaren Ohnmacht, alsauch die daraus erwachsende, umso involviertere Auseinandersetzung mit der Frage, wie angesichts der tiefsten Barbarei eine Gesellschaft zu schaffen ist, in der der Mensch dem Menschen ein Freund ist.
Das reduzierte Spiel der beiden Darsteller Curt Bois (Ziffel) und Karl Paryla (Kalle) ist nicht nur in der dialogischen Interaktion ein schauspielerischer Genuss. Es bringt zugleich den tiefgründigen Witz und dialektischen Erkenntnisgehalt der Brechtschen Wendungen so feinsinnig zur Geltung, dass nichts von ihrer den Zuschauer zur eigenständig-geistigen Produktion anregenden Wirkung verloren geht.
Die zwischenspielartige Untermalung mit Bildern und Sentenzen aus Brechts 1955 veröffentlichten „Kriegsfibel“ geben dem so evozierten, eingreifenden Denken einen hochaktuellen und verallgemeinerungswürdigen Sinn: kein noch so wohlfeiles Ideal mag nach diesen historischen Erfahrungen begründen, warum nicht jeder Krieg sofort zu beenden sei. Die Menschheit hat esverdient, dass heute erst recht alle geistigen und materiellen Ressourcen ausschließlich zur zivilen und kooperativenGestaltung eines global menschenwürdigen Daseins aufgewendet werden.
In diesem Sinne ist jedes Engagement von befreiender Bedeutung. Hinaus zum Antikriegstag!
Brot, Frieden, Würde – jetzt! International solidarisch: Schluss mit Austerität.
„Kalle: Edle Motive für moderne Kriege werden schon daher gern geglaubt, weil die eventuellen wirklichen, die man sich vorstellen könnt, zu schweinisch sind.“
Bertolt Brecht, „Flüchtlingsgespräche“, 1940/41.