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Filmseminar: Fahrraddiebe
30. März 2022 @ 20:00 - 23:30
(Spielfilm | Regie: Vittorio de Sica | IT 1948 | 90 Min. | OmU)
Immer, wenn Regierung und Wirtschaftsverbände eines europäischen Landes „ihr Volk“ im Namen einer wohl zurechtgelegten Tugend zur „wehrhaften Landesverteidigung“ aufgerufen haben, waren es die so Aufgerufenen, die am Ende dafür die Zeche zahlten. So stellte es sich auch in Italien spätestens nach Ende des Zweiten Weltkriegs heraus. Während einige ganz Wenige am Krieg wunderbar verdient hatten, lag das Land wirtschaftlich, sozial und kulturell am Boden.
In dieser Zeit entstand mit dem Neorealismus eine Kunstströmung in Film, Literatur und Malerei, die einen ungeschönten, kritischen Blick auf die sozialen Härten des Alltagslebens richtete, mit explizit empathischer Parteilichkeit für die Niedergehaltenen, und damit nachhaltige Wirksamkeit entfaltete für die menschenwürdige Erneuerung der Gesellschaft.
„Fahrraddiebe“ – eine Adaption des 1946 veröffentlichten, gleichnamigen Romans von Luigi Bartolini – gilt als ein filmischer Höhepunkt dieser Epoche.
Die Hauptfigur Antonio Ricci, der sich im Rom der Nachkriegszeit als Tagelöhner durchschlägt, um Frau und Sohn zu ernähren, bekommt als einer unter Vielen von der Arbeitsvermittlung eine langersehnte Festanstellung angeboten als Plakatkleber. Voraussetzung für die Stelle ist ein eigenes Fahrrad, für dessen Erwerb seine Frau Maria die geerbte Bettwäsche verpfändet. Am ersten Arbeitstag wird ihm jedoch das Fahrrad gestohlen und mit ihm die ganze Aussicht auf ein mögliches, besseres Leben. In all seiner Furcht und Niedergeschlagenheit wendet er sich zunächst an die Polizei, die jedoch keine Hilfe ist und begibt sich daraufhin mit seinem Sohn auf eine Odyssee durch die Stadt, um das Fahrrad bzw. den Dieb ausfindig zu machen. Die Suche, die ihn zu politischen Versammlungen, Schwarzmärkten, kirchlichen Armenspeisungen, geschäftigen Wahrsagerinnen, den Lokalen der guten Gesellschaft, der Brücke für Selbstmörder und schließlich ein von Mafiosi kontrolliertes Armenviertel führt, gerät dabei zum soziopsychologischen Kaleidoskop der subtilen und weniger subtilen alltäglichen Entwürdigungen in einer Gesellschaft, in der Arbeit als Gnade vergeben wird und in der das Leben für die Meisten kaum mehr als ein stetiger Kampf ums Überleben ist. Die Schlussszene, in der Antonio sich schließlich zu dem verzweifelten Versuch hinreißen lässt, einem Fremden das Fahrrad zu stehlen und dabei erwischt wird, unterstreicht geradezu paradigmatisch die enorme Aktualität der Erzählung.
Selten hat es ein Film geschafft, mit beinahe dokumentarisch-nüchterner Bildsprache ein vergleichbar eindrückliches und kraftvolleres Plädoyer für soziale Gleichheit, Solidarität und das Recht auf Arbeit in einer menschenwürdigen Gesellschaft zu entfalten.
Unweigerlich drängt sich die Frage auf, ob nicht die tatsächlichen Erkenntnisse aus der Befreiung vom Faschismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges – Soziale Grundrechtsordnung mit Demokratisierung, Demilitarisierung, Denazifizierung und Demonopolisierung der Gesellschaft sowie international gültige Menschenrechte in gewaltfreier Kooperation – heute erst recht neu ernst zu nehmen und global zu verwirklichen sind. Von 100 Milliarden Euro und 2% des BIP ließen sich hierzulande jedenfalls eine Unmenge soziokultureller Probleme im Handstreich beseitigen. Mit F-35-Kampfjets wird das schwierig. Ein tätig zu beantwortender Widerspruch.
Wann, wenn nicht jetzt: International solidarisch – Schluss mit Austerität!
„Die einen haben das ›Recht‹, für das Vaterland sterben zu dürfen, andre ›dürfen‹ zu Hungerlöhnen arbeiten – wobei denn wieder andre die saure Pflicht haben, vierundzwanzig Aufsichtsratsposten bekleiden zu müssen.“
Kurt Tucholsky, „…zu dürfen“, 1930.