
Filmseminar: Der Stellvertreter
(Spielfilm | Regie: Costa Gavras | D/F/RO 2002 | 125 Min. | deu)
„Schweigen ist Zustimmung“. Dieser schlichte Satz beinhaltet eine hochrelevante, grundlegende Erkenntnis: Menschliches Handeln ist immer gesellschaftliches Handeln und deswegen niemals neutral. Kein Unrecht der Welt kann verübt werden ohne die duldende Komplizenschaft einer Mehrzahl von Mitwissenden. Das gilt von der kleinsten Alltäglichkeit bis hin zur Akzeptanz von fundamentalen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch das Gegenteil trifft zu: das couragierte Widerstehen und eingreifende Verändern hat sofortige Bedeutung für die Beendigung des Unrechts. So beweist nicht zuletzt die 1945 gelungene historische Befreiung vom deutschen Faschismus, dass er von vornherein hätte verhindert bzw. in jeder Phase seiner Zuspitzung hätte beendet werden können. Eine Tatsache, aus der – nach wie vor und heute erst Recht – tiefgreifende Konsequenzen für eine umfassend humane Persönlichkeits-, Gesellschafts- und Zivilisationsentwicklung zu ziehen sind.
Einen gewichtigen Beitrag dazu leistet die 2002 von Costa Gavras geschaffene Verfilmung des 1963 von Rolf Hochhuth veröffentlichten, antifaschistischen Lehrstücks „Der Stellvertreter“.
Protagonist der an umfangreiches Quellenmaterial angelehnten Erzählung ist Kurt Gerstein, ein katholisch geprägter Chemiker und Hygienespezialist, der auf Betreiben seines Vaters 1941 der Waffen-SS beigetreten und dort zum Obersturmführer aufgestiegen ist. Ohne der fanatischen Rassenideologie anzuhängen, unterstützt er das Nazi-Regime aus patriotischer Gesinnung. Als er jedoch im Zuge der „Endlösung“ damit beauftragt wird, die Konzentrationslager mit „Zyklon B“ zu versorgen und dabei die systematische Vernichtung der inhaftierten Jüdinnen und Juden zum ersten Mal mit eigenen Augen bezeugt, überfallen ihn tiefgreifende Skrupel. Bei dem verzweifelten Versuch, das Ausland über die abscheulichen Verbrechen zu informieren und zum Eingreifen zu bewegen, stößt er jedoch auf taube Ohren. Auch der päpstliche Botschafter in Berlin weist ihn ab. Nur dessen Sekretär, der junge Riccardo Fontana, wird hellhörig und reist in den Vatikan, um Papst Pius XII. dazu zu bewegen, die Judenvernichtung mithilfe von Gersteins Informationen weltöffentlich zu verurteilen und zu stoppen. Je tiefer Fontana dabei in die Innereien des Machtgefüges der Kirche vordringt, desto offenkundiger wird allerdings, dass der „Stellvertreter Gottes auf Erden“ ein ganz eigenes Kalkül verfolgt: aus wirtschaftlichen Gründen will er es sich mit Hitler nicht verscherzen. Der Schutz der eigenen Anhänger hat Vorrang. Die Juden sind keine Christen und für die Christen stelle Sowjetrussland eine größere Gefahr dar als Hitlerdeutschland. Genau deswegen bleibt der entscheidende Protest der Kirche aus, der Hunderttausenden das Leben hätte retten können. So konnte Gerstein sein umfangreiches Dokumentationsmaterial erst 1945 den Alliierten übergeben. Es lieferte später immerhin die entscheidende Beweisgrundlage für den Holocaust und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
Die spannungsreich erzählte Filmparabel geht dabei weit über eine rein moralische Verurteilung der Gleichgültigkeit des Vatikans hinaus. Anhand der Ausleuchtung des gegenläufigen Agierens der Charaktere in diesem bis heute tabuisierten Kapitel der katholischen Kirche wird beispielgebend erhellt, dass und wie weitreichend die persönlich überzeugte Handlungsweise eines Jeden ganz prinzipielle geschichtliche Tragweite hat.
Humanität oder Opportunität bilden dabei einen Unterschied ums Ganze.
Aus der Prämisse, dass „alle Menschen gleich an Würde und Rechten geboren sind“ (Art. 1, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN, 1948), folgt eine unumstößliche, alltagspraktische Konsequenz: Menschlichkeit bedeutet, zu jeder Zeit, an jedem Ort solidarisch für Verhältnisse zu streiten, in denen alle Ungleichsetzung von Menschen in Würde und Rechten überwunden ist. Der erfreulichen Entfaltung des Humanen seien keine Grenzen gesetzt. Wir haben eine Welt zu gewinnen.
International solidarisch – Schluss mit Austerität!
„Ein Stellvertreter Christi, der ‚das‘ vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson, der sich nur einen Tag besinnt, nur eine Stunde zögert, die Stimme seines Schmerzes zu erheben zu einem Fluch, der noch den letzten Menschen dieser Erde erschauern lässt –: ein solcher Papst ist … ein Verbrecher.“
Rolf Hochhuth, „Der Stellvertreter“, 1963.