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Filmseminar: J’accuse/Intrige
13. Dezember 2023 @ 20:00 - 23:30
„Wenn von vollkommenen und unvollkommenen Rassen die Rede ist, ist es mutig zu fragen, ob nicht der Hunger und die Unwissenheit und der Krieg schlimme Mißbildungen hervorbringen.“
Bertolt Brecht, „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“, Paris, 1938.
Militärischer Autoritarismus oder soziale Ausweitung der Demokratie? Dieser lebendige Widerspruch drängt in Phasen der tiefsten Krise bürgerlicher Gesellschaften zur allseitigen Entscheidung. Damit bäumen sich auch etablierte Widerstände (gern „Staatsräson“ genannt) gegen Vernunft, Wahrheitsfindung, engagierte Humanität und soziale Progression neu auf. Voraufklärerische Stimmungsmache und die personalisierende Verbreitung pauschal-verunglimpfender Vorurteilsstrukturen erfahren dabei Hochkonjunktur. Sie sind zentrale Herrschaftsinstrumente, die dazu dienen, die gesellschaftlich-strukturell bedingte Ungleichheit als natürlich erscheinen zu lassen, ihre überwindbaren Ursachen und realen Profiteure zu verschleiern und jene gegeneinander aufzubringen, die sie tendenziell einsichts- und interessegeleitet überwinden können.
Ein eindrucksvolles historisches Lehrstück über diese hochaktuellen Zusammenhänge und die Frage, wie die formierte Reaktion gegen eine humane Zivilisationsentwicklung gebrochen werden kann, stellt die tatsachennahe Filmerzählung Roman Polanskis (realisiert nach Robert Harris‘ Romanvorlage „Intrige“) über die „Affäre Dreyfus“ und den damit verbundenen Kampf um die Entwicklung der Dritten Republik Frankreichs in den 1890er-Jahren dar.
Die mühsam errungene parlamentarische Republik, geboren 1871 aus den Kämpfen der revolutionären Arbeiter der Pariser Commune, zu deren Niederschlagung bereits die Militärgeneralität mit dem preußischen Kriegsgegner paktierte, ist den konservativen Royalisten, der Kirche und der nationalen Bourgeoisie von Beginn an ein Dorn im Auge. Mithilfe der Armee, die zu einem Staat im Staate angewachsen ist, wollen sie sie am liebsten wieder beseitigen, um ihre Interessen durchsetzen zu können. Dafür soll das Militär mit ziviler Oberbefehlsgewalt ausgestattet werden. Diesem Zweck dient die Inszenierung des Hochverratsprozesses gegen den elsässisch-jüdischen Offizier Alfred Dreyfus und die Entfesselung antisemitisch-nationalistischer Hetzkampagnen in der medialen, politischen und zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dreyfus wird 1894 – durch ein Netzwerk aus Intrigen und gefälschten Beweisen – anstelle des eigentlichen „Verräters“ Esterhazy, einem korrupten, ruhmsüchtigen Offizier aus höchsten Adelskreisen, der Feindbegünstigung für schuldig befunden, öffentlich demütigend aus der Armee entlassen und zu lebenslanger Festungshaft unter unmenschlichsten Bedingungen verurteilt.
Der zum Aufbau einer Geheimdiensteinheit berufene Major Marie-Georges Picquart stößt jedoch bei der Sichtung der Unterlagen seiner neuen Dienststelle auf Dokumente, die die vom Kriegsgericht verbreitete These der „jüdischen Verschwörung gegen die nationale Sicherheit“ schwer erschüttern. Je tiefer der sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet sehende Ermittler in die Materie eindringt, desto mehr enthüllt er damit die eigentliche Verschwörung: die der reaktionären Eliten in Militär und Staat gegen die fortschrittlichen Fundamente der demokratischen Gesellschaft. So gerät der bis dahin treue Beamte selbst immer mehr zur Zielscheibe von Willkür, Repression, Verfolgung und fanatisch-entfesseltem Antirepublikanismus. In dieser Kontroverse gibt die bewusste Entscheidung, sich auch persönlich neu dem Kampf für die Verwirklichung einer menschenwürdigen Gesellschaft gemäß der Einheit von Freiheit, Gleichheit, Solidarität mit all seinen Konsequenzen zu stellen, letztlich den entscheidenden Ausschlag. Im Verbund mit gleichgesinnt Engagierten, darunter dem sozialkritischen Publizisten Emile Zola, der mit seiner Streitschrift „J’accuse“ eine flammende Anklage gegen die regierungsamtlichen Verleumder veröffentlicht, gelingt es, die intriganten Machenschaften der Herrschenden bloßzustellen, Dreyfus zu rehabilitieren und eine neue, demokratisch-aufgeklärt kontrollierte, zivile und sozial-progressiv orientierte Staatsordnung durchzusetzen.
Der Film eröffnet damit zugleich weitreichende Einsichten über die Wirksamkeit von Vernunft und humanem Ethos in der gesellschaftlichen Kontroverse. Zivile Entwicklung, die universelle Verwirklichung der Menschenrechte und mutige Wahrheitsfindung bilden eine untrennbare Einheit. Hass und Gewalt verlieren ihre Wirkung, wenn ihre niedrigen Zwecke durchschaut werden. Der Mensch kann besseres erkennen und realisieren. Die Persönlichkeit wächst mit der Wahrnehmung ihrer historischen Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenhang.
Darum: Brot, Frieden, Würde – jetzt! International solidarisch: Schluss mit Austerität.
Gefördert durch die Hamburger Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration