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Der Prozess
19. Februar 2020 @ 20:00 - 23:30
(Spielfilm | Regie: O. Welles | FR/ITA/D 1962 | 118 Min. | deu)
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit diesem in die Literaturgeschichte eingegangenen, paradigmatischen Satz beginnt Franz Kafka sein 1924 posthum veröffentlichtes, entfremdungskritisches Roman-Meisterwerk. Die Geschichte Josef K.‘s, der von einer anonymen Gerichtsbarkeit eines stets im unklaren gehaltenen Vergehens angeklagt wird und der sich – gegen die Willkür auflehnend und Beweise seiner Unschuld suchend – immer tiefer in die Mühlen eines Justizsystems verstrickt, dessen scheinbar übermächtige Existenz er niemals in Frage zu stellen wagt, ist eine überzeitlich hochaktuelle Beleuchtung des Wesens der spätbürgerlichen Gesellschaft, der Funktion ihrer Herrschaftsinstanzen und der subjektiven Internalisierung ihrer Normanforderungen.
Die unerträglich erscheinende Ausweglosigkeit von K.‘s Bemühungen zeigt, dass der erniedrigende, konformitätsheischende Zweck drohender Schuldunterstellungen (neoliberal: „Eigenverantwortung“) gar nicht in der letztlichen Verurteilung des Einzelnen besteht, sondern schon durch dessen Anerkennung der gegebenen Mächte als natürlichen bzw. notwendigen Unveränderbarkeiten erfüllt ist. Jede Alltagsbegebenheit – die Arbeit, das Leben in der Pension, der Familienbesuch, der Besuch des Theaters, Lieb- und Bekanntschaften – ist von diesem Bewährungsdruck durchsetzt.
Der Leser wird an jeder Stelle durch die Kenntlichmachung des Wesens hinter der Erscheinung in den Stand gesetzt, laut „NEIN“ zu sagen, die stets vorhandene Alternative zu erkennen und sie zu verwirklichen. Dieser hoch aufklärerische und emanzipatorische Impetus Kafkas ist von Orson Welles 1962 in unnachahmlicher Weise erfasst und – unterstützt von hervorragenden Schauspielern wie Anthony Perkins, Jeanne Moreau, Romy Schneider und Michael Lonsdale – in Szene gesetzt.
Kafka, beruflich als Versicherungsangestellter in Prag mit dem Elend der Arbeiter konfrontiert und mit sozialistischen Kreisen sympathetisch verbunden, schrieb vehement gegen die Unterwürfigkeit in der K.u.K.-Monarchie Österreich-Ungarns vor dem ersten Weltkrieg an. Schon damals war der Kapitalismus in das tiefgreifende Krisenstadium seiner überreifen Überwindbarkeit eingetreten – auch wenn die Revolutionen hierzulande zunächst misslangen. Orson Welles verarbeitet filmisch das erdrückende Restaurationsregime der McCarthy-Ära der Nachkriegs-USA. Sein Werk ist auch als Vorbereitung des Aufbruchs von 1968 zu verstehen. Aus heutiger Sicht ist insofern die subjektive wie gesellschaftliche Überwindung von jeglicher Form des kulturell vermittelten Alternativlosigkeits-Gebots, zu dem die „Schuldenbremse“ zweifelsohne gehört, von elementarer Bedeutung für das Erreichen eines höheren Zivilisationsniveaus ohne Konkurrenz, Ausbeutung und Entfremdung, für die Verwirklichung des uneingelösten Erbes der Geschichte und eine solidarische Menschwerdung der gesamten Gattung.
Der Film verweist darauf, wie genussreich der Prozess dieser Erkenntnisbildung sein kann. Von Kafka heißt es, dass er beim Lesen seiner Texte mitunter herzhaft gelacht haben soll.
Machen wir Schluss mit der Austerität!
„»Nein«, sagte der Geistliche, »man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«“
Franz Kafka, Kapitel „Im Dom“ in: „Der Process“, 1924.
Hier findet ihr den Tyler auch als pdf.