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Filmseminar: Der Aufenthalt
10. November 2021 @ 20:00 - 23:00
(Spielfilm| Frank Beyer | DDR 1983 | 101 Min. | deu)
Am 9. November vor 83 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen. Die „Reichspogromnacht“ markierte den Beginn des grausamsten Verbrechens in der Menschheitsgeschichte, das in der systematischen Verfolgung und Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden und Abermillionen Weltkriegstoten gipfelte.
Wer sich heute angesichts der faschistischen Greuel und einer extrem rechten AfD, die mancherorts bei den letzten Wahlen gar zur stärksten Partei avancieren konnte, ernsthaftlich die Frage stellt, wie eine Gesellschaft zu schaffen ist, in der die Menschenwürde („Freiheit, Gleichheit, Solidarität“) vollumfänglich verwirklicht ist und menschenverachtende Ideologien gänzlich der Vergangenheit angehören, der tut gut daran, sich unvoreingenommen und wirklichkeitsnah auch damit zu beschäftigen, wie dies in den sozialistischen Staaten nach 1945 (und insbesondere in der DDR) versucht wurde.
Einen der literarisch eindrucksvollsten, unverzichtbaren Bausteine für jenen Versuch schuf der Autor und zeitweise Vorsitzende des Schriftstellerverbands der DDR, Hermann Kant, mit seinem autobiographisch angereicherten Roman „Der Aufenthalt“, der 1983 von Frank Beyer verfilmt wurde.
Er erzählt die Geschichte des 19-jährigen Wehrmachtsgefreiten Mark Niebuhr, der, 1943 als „Kanonenfutter“ in den Ostfeldzug geworfen, von der Front desertiert und in polnische Kriegsgefangenschaft gerät. Im Oktober 1945 wird er nach Warschau überstellt. Da er am Bahnhof von einer polnischen Passantin als derjenige SS-Mann identifiziert wird, der ihre Tochter bei einer „Vergeltungsaktion“ in Lublin erschossen haben soll, wird er unter Sonderarrest gestellt und – allen Unschuldsbekundungen zum Trotz – von der polnischen Aufsicht wie ein potentieller Kriegsverbrecher behandelt. Leidend unter den Widrigkeiten der Haft, den schweren, monotonen und gefährlichen Arbeiten, zu denen er abkommandiert wird, der in seinen Augen ungerechten Behandlung und der völligen Ungewissheit über sein weiteres Schicksal, will er zumindest wissen, was man ihm vorwirft und warum man ihn so behandelt. Als er in eine Arrestzelle mit weiteren Deutschen verbracht wird, öffnen sich ihm die Augen. Gestapo-Leute, SS-Führer, Wehrmachtsspitzen und vermeintliche einfache „Lagerarbeiter“ – sie alle der grausamsten Verbrechen schuldig – versuchen noch immer den verlorenen Krieg zu gewinnen, ihre Taten zu legitimieren, den Geist der „Volksgemeinschaft“ aufrechtzuerhalten (und sei es nur in der modrigen Zelle) und ihre eigene Haut zu retten – ohne Einsicht, ohne Reue, ohne Wandlung. Der angewiderte Niebuhr beginnt, die Polen zu verstehen, lernt ihre Sprache und kollaboriert mit der Aufsicht, die ihn schließlich noch vor der tödlichen Rache seiner Landsleute bewahrt. So wird aus dem verhetzten Wehrmachtssoldaten ein überzeugter Antifaschist und Menschenfreund.
Der Roman – noch weitaus intensiver als es ein Film überhaupt vermag – zeichnet dabei die unvergleichbare humanistische Großherzigkeit der sozialistischen Befreier nach, noch aus der scheinbar verlorensten Seele eine redliche, aufgeklärte, historisch bewusst und solidarisch handelnde Persönlichkeit zu machen, soweit diese dafür auch nur in geringster Weise aufgeschlossen ist. Hermann Kant, der hier seine eigene Geschichte literarisch verarbeitete, hat keine Gelegenheit ausgelassen, hervorzuheben, dass er den polnischen und sowjetischen „Erzieher:innen“ sein Leben verdankt und mit dem „Aufenthalt“ ihnen und der unbezwingbar umwälzenden Wirkung menschlicher Vernunft und Aufklärung ein literarisches Denkmal gesetzt. Es ist zugleich ein hochaktuelles Exempel dafür, wie internationale Völkerverständigung zur Heilung selbst tiefster historischer Wunden beitragen kann. Die gesamte menschliche Zivilisation hat eine solche geschichtliche „Wandlung“ mehr als verdient und dringend nötig.
International solidarisch: Schluss mit Austerität!
„So bildet sich der Mensch
Indem er ja sagt, indem er nein sagt
Indem er schlägt, indem er geschlagen wird
Indem er sich hier gesellt, indem er sich dort gesellt
So bildet sich der Mensch, indem er sich ändert
Und so entsteht sein Bild in uns
Indem er uns gleicht und indem er uns nicht gleicht.“
Bertolt Brecht, vorangestellt dem Roman „Der Aufenthalt“ von Hermann Kant, 1977.